Verbindungen X – 1960

Am 4. Januar 1960 platzt auf der Route Nationale 5 zwischen Champigny-sur-Yonne und Villeneuve-la-Guyard bei einem Facel-Véga ein Hinterreifen, der Wagen gerät ins Schleu-dern, kommt von der Fahrbahn ab, prallt gegen eine Platane und zurück gegen einen an-deren Baum und bricht auseinander. Beifahrer Albert Camus ist sofort tot. Die Uhr aus dem Armaturenbrett, die man auf dem Feld findet, ist bei 13 Uhr 55 stehengeblieben.
Der aufsehenerregendste Nachruf auf Camus war der Sartres in France-Observateur. »Wir hatten uns überworfen, er und ich […] ein Zerwürfnis besagt nichts – selbst wenn man sich niemals wiedersehen sollte –, höchstens eine andere Art, zusammen zu leben.« Für Sattre ist Camus’ Schweigen zu Algerien »allzu vorsichtig« gewesen. Aber Camus »stellte in diesem Jahrhundert und gegen die Geschichte den gegenwärtigen Erben jener langen Folge von Moralisten dar, deren Werke vielleicht das Originellste der französischen Gei-steswelt bilden. Sein starrköpfiger Humanismus, eng und rein, streng und sinnlich, führte einen ungewissen Kampf gegen die massiven und difformen Ereignisse dieser Zeit. Doch durch die Hartnäckigkeit seiner Weigerungen behauptete er mitten in unserer Epoche, ge-gen die Machiavellisten, gegen das goldene Kalb des Realismus, immer wieder die Exi-stenz der Moral.«

Seit zwei, drei Jahren schon protestierten hohe französische Beamte – meist Liberale – öf-fentlich gegen die Ausschreitungen der französischen Armee in Algerien und verlangten ein Eingreifen der Regierung: René Capitant, Professor für allgemeines Recht an der Uni-versität in Algier, hatte aus Protest gegen das suspekte »Verschwinden« eines seiner ehe-maligen Schüler, Ali Boumendjel, seinen Rücktritt eingereicht. Paul Teitgen, Sekretär des Polizeipräsidiums von Algier, hatte dasselbe getan: »Ich habe die Überzeugung gewon-nen«, schrieb er, »daß wir in einen Prozeß der Anonymität und Verantwortlungslosigkeit geraten sind, der bis zu Kriegsverbrechen führen kann.« Einige Tage später trat der Gene-ral Pâris de Bollardière von seinen Ämtern zurück: Unter diesen moralischen Bedingun-gen lehnte er es ab, weiterhin verantwortlicher Kommandeur für den Abschnitt Blida zu sein. Der Schriftsteller Vercors – der Résistancekämpfer und Autor des unvergeßlichen Le silence de la mer – schickte dem Präsidenten der Republik sein Kreuz der Ehrenlegion zu-rück als offizielle öffentliche Geste der Mißbilligung. (Cohen-Solal, Sartre)

(über die Folter durch die französische Armee: http://www.trend.infopartisan.net/alsoli/al003.html)

Am 6. September 1960 erscheint mit dem Titel »Déclaration sur le droit à l’insoumission dans la guerre d’Algérie« (Deklaration über das Recht zur Dienstpflichtverweigerung im Algerienkrieg) in der Zeitschrift Vérité-Liberté das »Manifeste des 121«. 121 Intellektuelle, Universitätangehörige und Künstler haben es unterzeichnet. Das Manifest endet mit den Worten:
»Wir die Unterzeichneten erklären:
• Wir respektieren die Weigerung, die Waffen gegen das algerische Volk zu ergreifen, und beurteilen sie als gerechtfertigt.
• Wir respektieren das Verhalten der Franzosen, die es für ihre Pflicht halten, den im Namen des französischen Volkes unterdrückten Algeriern Hilfe zu leisten und Schutz zu gewähren, und beurteilen es als gerechtfertigt.
• Die Sache des algerischen Volkes, die in entscheidender Weise dazu beiträgt das Ko-lonialsystem zu zerstören, ist die Sache aller freien Menschen.«
Zu den Unterzeichnern gehören unter anderem Simone de Beauvoir, Pierre Boulez, André Breton, Marguerite Duras, Claude Lanzmann, Henri Lefebvre, Michel Leiris, Paul Pierre Lévy, André Masson, Alain Resnais, Alain Robbe-Grillet, Françoise Sagan, Jean-Paul Sar-tre und Simone Signoret.
Ein Teil der Unterzeichner wird daraufhin aus öffentlichen und staatlichen Anstellungs-verhältnissen entlassen, gegen 29 von ihnen wird Anklage erhoben. Die von Jean-Paul Sar-tre gegründete Zeitschrift Les Temps Modernes druckt statt des von der Zensur verbote-nen Manifests zwei leere Seiten und eine noch gewachsene Liste von Unterzeichnern ab. Während des darauffolgenden Prozesses – Sartre reist währenddessen nach Brasilien und Kuba, wo er mit Che Guevara und Fidel Castro zusammentrifft – skandieren Demonstran-ten auf dem Champs Elysées »Tötet Sartre«, Charles De Gaule wittert die Falle und sagt: »Einen Voltaire verhaftet man nicht.«

1960 werden im südafrikanischen Township Sharpeville 69 Schwarze bei einer Demon-stration erschossen (Sharpeville-Massaker), die Regierung von Südafrika verbietet den Afrikanischen Nationalkongress sowie die Panafrikanische Bewegung, der UNO-Sicherheitsrat fordert Südafrika auf, die Rassentrennung zu beenden. Der israelische Ge-heimdienst Mossad ergreift Adolf Eichmann in Buenos Aires, der Sicherheitsrat der UN fordert Israel auf, eine angemessene Wiedergutmachung gegenüber Argentinien vorzu-nehmen, nachdem es dessen Souveränität verletzt hatte.
Kamerun, Togo, Senegal, Madagaskar, Dahomey (später Benin), Niger, Obervolta (später Burkina Faso), die Elfenbeinküste, Tschad, die Zentralafrikanische Republik, Kongo, Ga-bun, Senegal und Mauretanien werden von Frankreich, Zaire von Belgien, Somalia von Großbritannien (nördlicher Teil) und Italien (südlicher Teil), Zypern von Großbritannien und Mali von Senegal unabhängig.
Das türkische Militär putscht, und der kurdische Separatismus wird zum Staatsverbre-chen erklärt. Iran, Irak, Kuwait, Saudi-Arabien und Venezuela gründen in Bagdad die OPEC. Vor der UNO-Vollversammlung trommelt UdSSR-Chef Nikita Chruschtschow mehrmals mit seinem Schuh auf das Pult, um Ruhe im Plenarsaal zu bewirken.
Gamal Abdel Nasser eröffnet die Arbeiten am Assuan-Staudamm, der Schimpanse Ham fliegt als erstes Lebewesen mit einer Mercury-Kapsel ins Weltall, Jacques Piccard erreicht mit seinem Tauchboot die Rekordtiefe von 10.916 Meter, und die Antibabypille kommt auf den amerikanischen Markt. Michael Ende veröffentlicht »Jim Knopf und Lukas der Loko-motivführer«, Armin Hary wird deutscher Meister über 100 und 200 Meter, läuft im Züri-cher Letzigrund-Stadion zweimal hintereinander mit 10,0 Sekunden Weltrekord über 100 m (der erste Lauf wurde im Nachhinein als Fehlstart gewertet) und wird Doppelolympia-sieger über 100 m und mit der 4 x 100 m-Staffel (mit Martin Lauer, Walter Mahlendorf und dem Idar-Obersteiner Bernd Cullmann). Ein Jahr später wird er wegen einer unkorrekten Spesenabrechnung (es geht um 70 DM) vom Deutschen Leichtathletikverband gesperrt.

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