Verbindungen XIII – 1972

Im Frühjahr 1972 bewirbt sich eine ungewöhnlich gut aussehende junge Frau um eine Lektorenstelle am Romanischen Seminar der Freien Universität in Berlin: Annie Cohen-Solal. Sie hat Erfolg. Jean-Paul Sartre hat gegen die Intervention der Staaten des War-schauer Pakts gegen den Prager Frühling demonstriert und eine Reise in die ČSSR unter-nommen (1968), an Demonstrationen und Interviews gegen die Repression der Protestbe-wegung vom Mai ’68 und gegen den Vietnamkrieg teilgenommen (1969) und ist nach der Teilnahme an zahlreichen Aktionen vorwiegend maoistischer Gruppen inzwischen nomi-neller Herausgeber der maoistischen Zeitschriften la cause du peuple und Tout! Er veröf-fentlicht »Le socialisme qui venait du froid« (Der Sozialismus, der aus der Kälte kam). Er kann kaum noch sehen.

1972 wird Kurt Waldheim Generalsekretär der Vereinten Nationen, die Regierungschefs des Bundes und der Länder beschließen den so genannten Radikalenerlaß. In der nordiri-schen Stadt Derry erschießen britische Fallschirmjäger bei einer Demonstration für Bür-gerrechte und gegen die Internment-Politik der britischen Regierung (Internierung irisch-republikanischer Guerillagruppen und katholischer Bewohner der Provinz ohne konkre-ten Verdacht) 13 offensichtlich unbewaffnete Menschen (Blutsonntag), was zur Eskalation des Nordirlandkonfliktes führt. Ein Jumbo-Jet wird durch arabische Terroristen nach Aden (Südjemen) entführt, die Bundesrepublik zahlt fünf Millionen Dollar Lösegeld. In Münster findet die erste deutsche Schwulendemo statt. Der Irak verstaatlicht die gesamte Erdölindustrie. Andreas Baader und andere Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) werden in Frankfurt am Main nach einer Schießerei verhaftet, zwei Wochen später Ulrike Meinhof und Gerhard Müller.
Das Transitabkommen zwischen der BRD und der DDR tritt in Kraft. Ins Watergate-Gebäude in Washington D.C. wird eingebrochen, die von einem Wachmann herbeigeru-fene Polizei verhaftet fünf Männer: die Watergate-Affäre kann beginnen. Fast einen Mo-nat, nachdem FBI-Agenten mitgeteilt haben, dass der Einbruch ins Hauptquartier der De-mokraten Teil einer politischen Sabotageaktion des Weißen Hauses sei, besiegt Richard Nixon George McGovern in den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen mit großem Stimmenvorsprung.
Der Club of Rome veröffentlicht seinen Bericht Die Grenzen des Wachstums. Die Apollo 17-Mission ist die vorläufig letzte Mond-Mission.
Die Wings spielen ihr erstes Konzert, und die erste Folge von Star Trek (Raumschiff En-terprise) wird im Deutschen Fernsehen gezeigt. Die Firma Hewlett-Packard bringt mit dem HP-35 den ersten wissenschaftlichen Taschenrechner auf den Markt, die Bayerische Landesbank wird gegründet. Die Bauer Verlagsgruppe bringt die deutsche Ausgabe des Männermagazins Playboy auf den Markt. Fünf ehemalige Mitarbeiter von IBM gründen »SAP Systemanalyse und Programmentwicklung« in Weinheim. Bei Augsburg wird unter der Marke Texaco die erste Selbstbedienungs-Tankstelle Europas eröffnet.
Eddy Merckx gewinnt zum 4. Mal die Tour de France, und Robert James (Bobby) Fischer wird im so genannten Match des Jahrhunderts Schachweltmeister.
Heinrich Böll gewinnt den Literatur-Nobelpreis, der Friedensnobelpreis wird in diesem Jahr nicht verliehen.

Bei den Olympischen Spielen von München gewinnt der US-amerikanische Schwimmer Mark Spitz sieben Goldmedaillen. Stadionsprecher bei eröffnungs- und Schlußfeier ist Joa-chim Fuchsberger. Erstmals wird bei Wurfdisziplinen die Entfernung nicht mehr mit dem Maßband sondern mittels Infrarotlicht gemessen.
Der sowjetische Athlet Walerij Borsow gewinnt die Goldmedaillen im 100- und 200-Meter-Lauf und sorgt damit für den ersten nichtamerikanischen Sprint-Doppelsieg. Weil der US-amerikanische Trainer Stan Wright den schon vor Monaten veröffentlichten Zeitplan nicht kennt, verpassen die Läufer Reynaud Robinson und Edward Hart den Zwischenlauf über 100 Meter. Nur Robert Taylor erreicht noch rechtzeitig das Stadion und muss seinen Lauf ohne jedes Aufwärmen absolvieren. Im Finallauf erreicht er dann sogar noch den zweiten Platz und gewinnt die Silbermedaille.
Der Finne Lasse Viren, eigenblutgedopt, was aber noch nicht verboten ist, wird Doppel-olympiasieger über 5000 und – trotz Sturz – 10.000 Meter.
Beim Marathonlauf stiehlt ein 16-jährige Oberschüler dem Sieger Frank Shorter die Show, indem er am Ende des Rennens kurz vor dem Stadion die Streckenabsperrung überwindet und mit Sportkleidung und der falschen Meldenummer 72 unter dem Jubel von zehntau-senden Zuschauern als erster ins Olympiastadion rennt. Letzter des Marathonlaufs wird Maurice Charlotin, der von einem Elektrofahrzeug begleitet wird. Als dieses auf den letz-ten Metern eine Panne hat, bleibt der Haitianer ebenfalls stehen, da er sich so an dieses Ge-fährt gewöhnt hat.
Überraschungssiegerin im Frauen-Hochsprung wird die erst 16-jährige deutsche Jugend-meisterin Ulrike Meyfarth, die mit 1,92 m gleichzeitig den Weltrekord einstellt. Der Ge-winner bei den Männern springt noch im alten Straddle-Stil.
Beim Speerwerfen der Männer kann sich der deutsche Klaus Wolfermann gegen den favo-risierten sowjetischen Olympiasieger von 1968 Janis Lusis mit einer Weite von 90,48 m (und einem Vorsprung von zwei Zentimetern) die Goldmedaille sichern.
Die erfolgreichsten Sportlerinnen bei den Wettbewerben der Frauen sind Heidemarie Ro-sendahl, die für die Bundesrepublik Deutschland die Goldmedaille im Weitsprung und mit der 4×100-Meter-Staffel sowie die Silbermedaille im Fünfkampf gewinnt. Für die DDR gewinnt Renate Stecher im 100- und 200-Meter-Lauf und die Silbermedaille mit der 4×100-Meter-Staffel. Das Duell der beiden, jeweils Schlußläuferin ihrer 4×100-Meter-Staffel, ge-hört zu den Höhepunkten der Spiele.
In Erinnerung bleibt auch der spektakuläre Überwurfsieg des »Krans von Schifferstadt«, Wilfried Dietrich, im griechisch-römischen Stil gegen den 200 Kilo schweren und 1,98 Me-ter großen Chris Taylor, der im Superschwergewicht (Freistil) die Bronzemedaille holt. Taylor, der zuletzt 230 Kilo wiegt, stirbt 1979 mit 29 Jahren, Dietrich mit 58, beide an ei-nem Herzinfarkt.
Auch erinnert man sich an die 17-jährige Olga Korbut, die bei einer Größe von 1,55 Meter nur 38 Kilogramm wiegt und als »Spatz von Grodno« zum Publikumsliebling und mit drei Goldmedaillen und einer Silbermedaille die erfolgreichste Turnerin dieser Olympi-schen Spiele wird.

Am 5. September nehmen acht Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation »Schwarzer September« elf Athleten des Israelischen Teams als Geiseln und fordern die Freilassung von 232 Palästinensern. Die Geiselnahme endet mit einer gescheiterten Geisel-befreiung auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck, bei der alle Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist sterben.

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